Im Zentrum des Textes ist es ruhig

Über eine statistische Anomalie an einem 11. September vor zwanzig Jahren

Jan Kutter
6 min readSep 11, 2021
Das World Trade Center in New York (Photo by History in HD on Unsplash)

Es war der Tag, vor dem alles so gewesen war, wie es immer war.

Ich saß, vermutlich wie üblich etwas vornübergebeugt, an meinem Dienstschreibtisch. Es waren fünf wichtige oder zumindest dringende Texte zu schreiben, am Abend hatten sie fertig zu sein, es gab nichts, was diese Fristsetzung verschieben konnte. Es war ruhig im Büro, niemand rief an, weil niemand sich traute. Der muss jetzt erstmal die Texte fertig machen. Wenn der seine Texte fertig hat, kann man wieder mit ihm reden.

Als mein Telefon klingelte, waren noch vier Texte zu schreiben. Eine Kollegin sagte, ich müsse sofort den Fernseher einschalten, ein Flugzeug sei in das World Trade Center geflogen. Sie klang nicht aufgeregt, eher erstaunt.

Warum sie mich anrief, war klar. Der einzige Fernseher im Gebäude stand in meinem Büro. Ein Privileg, das nicht immer nur ein Vorteil war und das mir deshalb gewährt wurde, weil man dachte, es wäre gut, wenn ich mitbekäme, was draußen in der Welt so los ist. Ich war unter anderem verantwortlich für die Beziehungen der Institution zur Außenwelt. Deshalb waren immer wieder Texte zu schreiben, Strategien, Aussendungen, Reden. Jeden Morgen brachten mir die Boten von der Poststelle einen dicken Stapel Zeitungen, die zwei Kolleginnen später durcharbeiteten und filettierten. Und ich hatte einen Fernseher mit einem mächtigen runden Buckel. Es stand sogar ein Videorekorder daneben, den ich noch nie eingeschaltet hatte. Die einzige Videokassette in meinem Büro hatte mein Vorgänger aufgenommen. Oder zumindest hatte er sie beschriftet; angesehen habe ich sie mir nie.

Ein Flugzeug war in das World Trade Center geflogen. Das bedeutete Bilder, die mir in den Abendnachrichten auffallen würden, falls ich bis dahin mit den Texten fertig sein sollte. Es ist so: Ich bin kein mitleidloser Mensch, ich weine sogar gelegentlich im Kino. Aber immerzu gab es Zugunglücke und Flugzeugsabstürze und Seilbahnrisse und Wirbelstürme und Tunnelbrände und Überflutungen. Das Flugzeug, das in das World Trade Center geflogen war, würde nun in diesen niemals versiegenden Strom von Katastrophenbildern einfließen, den wir Zeitgeschichte nennen. Gelegentlich entwickelte der Tod einen entsetzlichen, nach Aufmerksamkeit heischenden Hang zur Originalität. Aber das Leben wird nicht besser und die Schrecken, die das Leben bereitet, werden nicht kleiner, wenn man sich diese verwackelten, grobkörnigen Ereignisse auch noch live anschaut. Ich würde auf die Abendnachrichten warten, danach würde es bestimmt noch eine Sondersendung geben, die mich über alles Notwendige in Kenntnis setzen würde, und am Jahresende würde ich mich bei einem der zahllosen Jahresrückblicke an diesen Tag erinnern. Oder zumindest an seine Bilder.

Die letzte große Live-Katastrophe, die mir in den Sinn kam, war das Zugunglück von Eschede. Der deutsche Lokalreporter, der von CNN zugeschaltet wurde, um stundenlang die Live-Bilder aus dem Hubschrauber per Telefon zu kommentieren, hieß Michael Ende. Jemand erklärte, Eschede würde »das Vietnam-Trauma des deutschen Rettungswesens« werden. Am Tag nach dem Unglück waren mir auf einem Supermarkt-Parkplatz in Schleswig-Holstein seltsame Betroffenheitsbekundungen entgegengebracht worden, weil ich aus einem Auto mit Celler Kennzeichen stieg, das mir nicht gehörte. Mitgefühl schien eine beliebig abrufbare Ressource zu sein, die sich mehr auf das eigene Sensationsempfinden als auf das eigentliche Unglück zu richten schien.

Ich erinnerte mich daran, dass vor ein paar Jahren in den Niederlanden ein Flugzeug kurz nach dem Start in einen Vorort gestürzt war. Nach dem »heute journal« mit spektakulären Bildern vom blaulichtblinkenden Chaos am Unglücksort setzte das ZDF sein Programm mit einem mittelmäßigen Zeitreise-Film fort. Er beginnt mit einem Flugzeugabsturz in ein Wohngebiet. »Wer war der erste am Unfallort?«, fragt ein Ermittler. »Der Pilot«, antwortet ein anderer. Als diese Szene über den Bildschirm flimmerte, wussten mindestens zwei Bedienstete des ZDF, dass sie am nächsten Morgen ein unangenehmes Gespräch miteinander führen würden.

Um am nächsten Morgen nicht selbst ein unangenehmes Gespräch führen zu müssen, schaltete ich den Fernseher nicht ein, sondern begann die Arbeit am nächsten Text. Die Institution, für die ich arbeitete und folglich auch schrieb, hatte mich mit der Leitung einer kleinen Entität betraut, die im Organigramm ein wenig abseits vom Rest der lotrecht aufgehängten Kästchen schwebte und etwas mysteriös mit einem einzelnen Buchstaben aus der zweiten Hälfte des Alphabets bezeichnet war. Wenn mich jemand fragte, was ich beruflich trieb, sagte ich, ich arbeitete für die Regierung. In gewisser Weise war das nicht falsch. Ich hatte mir abgewöhnt, die volle Wahrheit zu sagen, und ich hatte mir abgewöhnt zu lügen. Ich sprach überhaupt nicht allzu viel, und ich benutzte viele Worte, um darüber hinwegzutäuschen.

Die Kollegin rief wieder an. Ob ich meinen Fernseher endlich eingeschaltet hätte. Es sei gerade noch ein zweites Flugzeug eingeschlagen. In den anderen Turm. Ich rief mir das World Trade Center vor Augen. Richtig, zwei Türme. In »Die drei Tage des Condors« hatten sie geschimmert wie eine Kathedrale. Ich dachte an khlav kalash.

Das zweite Flugzeug. Dies ist der Moment, von dem jeder meiner Kollegen, meiner Freunde, all der klugen Menschen, mit denen ich zur Interaktion verdammt bin, sagt, da hätte er gleich gewusst, was die Stunde geschlagen habe: Das bedeutet Krieg. Eine neue Weltordnung. Clash der Zivilisationen. Christen gegen Muslime. Asymmetrische Bedrohungslagen, Erschütterungen der geostrategischen Tiefentektonik. Krieg gegen den Terror, der neue heiße kalte Krieg. So sind sie, die Menschen, mit denen ich zu tun habe. Sie sind nicht doof. Sie wissen sofort Bescheid, und sie finden für alles Worte und einen Kontext.

Alles, was ich in diesem Moment dachte, war: »Mein Gott, zwei Flugzeuge, zwei Türme, am selben Tag — wie unwahrscheinlich ist das denn bitte?« Mit Unwillen registrierte ich, wie meine Neugier wuchs. Dieser Vorfall war nicht nur als statistische Anomalie auffällig. Das hatte emblematisches Potential. Ich könnte das vielleicht in den Texten verwenden.

Kollegen standen in meiner Bürotür und fragten, ob sie den Fernseher einschalten dürften. Ich kannte das schon, einige von ihnen schauten sich gelegentlich auch ausgewählte Sportereignisse in meinem Dienstzimmer an. Die Radrenn-Clique verfolgte an meinem Besprechungstisch manchmal die Tour de France, während der Arbeitszeit, ihr Abteilungsleiter gehörte ja dazu. Mich störte das nicht. Solange ich nicht reden muss, kann ich auch schreiben. Ehrlich gesagt kann ich auch schreiben, während ich rede.

Das Büro wurde immer voller, verschiedene Gesprächsfetzen krallten sich aneinander. Offenbar liefen nun auf allen Fernsehkanälen Live-Bilder vom Unglücksort, die sich endlos mit Aufzeichnungsschnippseln der Flugzeugeinschläge abwechselten und mit staunendem Entsetzen von den Umstehenden kommentiert wurden. Gelegentlich schwoll abrupt ein Raunen an und wieder ab, wie im Stadion. Es wurde lauter. Ich arbeitete im Text. Im Zentrum des Textes ist es immer ruhig.

Zwischen den Schultern und Köpfen der anderen flimmerte der Fernsehschirm, und als ich einmal kurz aufschaute, erkannte ich einen dunklen Punkt, der aus dem Hochhaus stürzte und im Fallen seinen Umriss veränderte. Einige Kollegen stöhnten wie unter Schmerzen auf. Wir wussten noch nicht, dass dies der Tag vor dem Tag war, an dem die Redewendung »jemand in den Türmen verloren haben« in unseren Sprachschatz einging. Ich schrieb den letzten Text fertig und ging nach Hause. Ich verpasse keine Deadlines.

Am Abend erreichte mich meine Mutter am Telefon. Sie hatte sich Sorgen gemacht und war froh, meine Stimme zu hören. Ich war verwundert. Was hätte mir passieren sollen? Ich ging mittlerweile davon aus, dass der unaufschiebbare Anlass am kommenden Tag, für den fünf Texte unabdingbar waren, wohl abgesagt werden würde. Im Fernsehen hörte ich verschiedene Variationen des Satzes, nichts würde nach diesem Tag mehr so sein wie es vorher war. Aber was sollte das heißen, nichts würde so bleiben wie bisher? Wie war es denn eigentlich? Wie war es bis zu diesem Tag gewesen? Ich versuchte, mir darüber klar zu werden. Ich wusste es nicht. Ich hatte keine Worte dafür und keinen Kontext. So war es immer, und ich befürchtete, dass es auch nach diesem Tag nicht anders sein würde.

Bilder des World Trace Centers aus dem Film »Three Days Of The Condor«
Das World Trade Center im Film »Three Days Of The Condor« (Stills by Jan Kutter)

Nachtrag: Diesen Text habe ich ursprünglich im Jahr 2011 anlässlich des zehnten Jahrestages des Anschlags auf das World Trade Center verfasst und nun, neuerliche zehn Jahre später, leicht überarbeitet. Er fußt auf Notizen von 2001 und 2009. Man kann ein Ereignis immer nur als der erleben, der man ist, wenn es geschieht. So sollte man es auch beschreiben. Wenn es stimmen sollte, dass seit diesem Tag nichts mehr so ist, wie es einmal war, dann hoffe ich, dass das auch für das Ich gilt, das in diesem Text auftritt und das mir immer noch genauso unangenehm ist wie vor zehn Jahren.

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In Wahrheit dient die Dichtung der Wahrung der Dichtheit. // Verdrängung ist, was uns über Wasser hält. // Langstrecken von twitter.com/derkutter

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