In Joghurtgewittern: Gefechtserfahrungen im Golf

Nachdem im Jahr 2011 die letzten Zivildienstleistenden in die Freiheit entlassen wurden, wird nun wieder über eine Dienstpflicht diskutiert. Was hätten junge Menschen von dieser zu erwarten? Und was können sie von den rund 2,7 Millionen Männern lernen, die in Deutschland bereits Zivildienst geleistet haben und die — wie hier dargestellt — nur allzu gerne von früher erzählen?

Jan Kutter
7 min readJun 14, 2022
(Foto: Jakob Cotton on Unsplash)

Auf einmal ging alles sehr schnell. Der junge, immer etwas mürrische Kollege Bessmann hatte gerade den Wagen an der roten Ampel gestoppt, als sich die Türen des vor uns stehenden VW Golfs öffneten. Zwei junge Männer sprangen heraus. Ich war lange genug dabei. Ich wusste, was als nächstes passieren würde.

»Los, Zentralverriegelung!«, rief ich. Hektisch griff ich nach hinten und kramte im Rückraum des Wagens. Die Männer standen bereits vor uns. Sie holten aus und warfen zwei Yoghurt-Packungen auf unsere Windschutzscheibe, die sogleich zerplatzten. »Die Arschlöcher!«, schimpfte Bessmann und schaltete die Scheibenwischer ein, deren Gummiwischblätter den Kleister nun behäbig kreuz und quer über die Scheibe schmierten. Als wir endlich wieder etwas sehen konnten, waren die Angreifer längst wieder in ihren Wagen gesprungen und losgefahren. Die Ampel stand auf grün. Alle um uns herum fuhren, bloß wir nicht. Ich hatte derweil gefunden, wonach ich gesucht hatte. »Hab’ einen«, rief ich, »Bessmann, gib Gas!«

Bessmann ließ die Reifen quietschen. Es ging rauf auf die Hochstraße, und jetzt zahlte sich endlich einmal aus, dass wir die Überland-Strecke fuhren. Die Tour war unbeliebt, weil sie länger war als alle anderen, aber dafür hatten wir den Turbo-Diesel, den schnellsten Wagen im Fuhrpark. Bessmann holte mühelos auf und zog auf die linke Spur, während ich das Beifahrerfenster herunterkurbelte. Nur einen Augenblick später zerbarst ein Schoko-Pudding von Puddis, einer Marke, die wir seltsamerweise immer in kyrilischer Beschriftung geliefert bekamen, oben links auf der Windschutzscheibe des gegnerischen Golfs. Ein zweiter klatschte auf die Essen auf Rädern-Werbetafel auf dem Dach. Durch eine Vollbremsung hatte der Fahrer noch versucht, den Geschossen zu entgehen, doch vergebens. Hinter ihm begann ein wütendes Hupen.

»Ja, noch einen!«, rief Bessmann, dessen Laune sich augenblicklich gebessert hatte. »Nix, wir hauen ab«, beschied ich, zufrieden mein Werk durch die Heckscheibe betrachtend. Nie den Schulterblick vergessen! Ich wurde gern als Stimme der Vernunft den eher unzuverlässigen Fahrern zugeteilt. Aufgrund meines gesetzten Alters und eines abgeschlossenen Universitätsstudiums galt ich als Respektsperson. Die Kollegen im gegnerischen Golf hatten genug.

So war das in meinem Zivildienst, Mitte der neunziger Jahre. Wegen eines angeblichen Nierenschadens, den das Kreiswehrersatzamt ohne mein aktives Zutun und zu meiner eigenen Überraschung feststellte, den es später aber — ebenso wie der von mir hinzugezogene Urologe — nicht mehr wiederfinden konnte, war ich zunächst vom Dienst zurückgestellt worden. Ich deichselte es so, dass ich erst mein Studium beginnen und abschließen konnte, bevor ich schließlich mit etlichen Jahren Verspätung doch noch zu Essen auf Rädern gelangte. Was ich nicht wusste: Diese ruhmreiche Einrichtung, die sich den konsequenten Vitaminentzug der greisen Bevölkerung mittels Lieferung aufgewärmter und wieder erkalteter Fertigspeisen auf die Fahnen geschrieben hatte, war die erste Anlaufstelle für die Autonarren (vulgo: die Bekloppten) unter den Kasernatsverweigerern.

Was die einschlägigen gewissen Gründe (der juristische Fachterminus lautete: Gewissensgründe) betraf, die glaubhaft und vor allem schriftlich herangeführt werden mussten, um die Berechtigung für das Privileg eines extralangen Zwangsdienstes bescheinigt zu bekommen, bewiesen die Essenausfahrer im Staatssold jeden Tag aufs Neue, dass sie keinerlei moralische Probleme damit gehabt hätten, notfalls auch mit einem Panzer rücksichtslos über jedes Hindernis hinwegzubrömmern, sofern nur der Motor dabei ordentlich röhrte. Eine These, die sich durch die eindrucksvolle innerbetriebliche Unfallstatistik jederzeit belegen ließ, von den Joghurt-Schlachten auf offener Straße ganz zu schweigen. Diese wurden meist mit der Konkurrenz vom kommerziellen Menü-Bringdienst ausgetragen, doch manchmal gerieten wie beim tête-à-tête auf der Hochstraße auch die eigenen Kollegen unter friendly fire. Wir waren eine Gemeinschaft, aber eine, die von einer undurchsichtigen, knauserigen Bürokratie zusammengewürfelt worden war. Wir waren keine Freunde.

Vom Dienststellenleiter war ich nicht nur schnell als dufte Respektsperson, sondern auch als Intellektueller ausgemacht worden, was bedeutete, dass ich meist die festangestellten Kolleginnen im Büro unterstützen musste. Dort beruhigte ich nicht nur alte Damen am Telefon, die sich Sorgen wegen der kyrillischen Beschriftung auf ihrem Dessert machten (»Nein, Frau Wöhler, der Russe ist nicht da. Noch nicht!«), sondern nahm auch die regelmäßigen Beschwerden aufgebrachter Verkehrsteilnehmer entgegen und versprach, die gemeldeten Übeltäter (»Ich wiederhole noch einmal das Kennzeichen, das Sie mir genannt haben, damit wir auch ja den Richtigen erwischen!«) einer gerechten und vor allem harten Strafe zuzuführen.

Erst der fortgesetzte Verzicht hierauf freilich begründete meinen internen Status als Respektsperson — dies und die Tatsache, dass ich den Schlüssel für die Tiefkühlkammer verwaltete, in der verbotene Extraportionen für den Hunger zwischendurch lockten, die im Konvektomaten schnell verzehrfertig gemacht werden konnten (am besten liefen die Lasagne und Mettbällchen in Tomatensoße), und in der zudem streng wissenschaftliche Panik-Experimente durchgeführt werden konnten. Dass so eine begehbare Kühlkammer weder einen Notöffnungsmechanismus noch einen Lichtschalter im Innern hatte, konnte doch eigentlich gar nicht zulässig sein — mochte der ISO-zertifizierungsbegeisterte Geschäftsführer auch noch so viele Qualitätszirkel abhalten.

Wertvolle Erfahrungen

Über 2,7 Millionen männliche Mitmenschen haben seit 1961 während ihrer Zivildienst-Zeit sogenannte »wertvolle Erfahrungen« gesammelt, die sie »auf gar keinen Fall missen« möchten. So lautet die inoffizielle Sprachregelung aller ehemaligen Zivis — zumindest hinterher, wenn alles vorbei ist. Während der Dienstzeit jedoch, die ja bei aller grundsätzlichen Einsicht in die Sinnhaftigkeit der ausgeübten sozialen Tätigkeiten immer auch eine Zwangsdienstzeit war, wurden die Tage gezählt, und zwar rückwärts. Zumindest in diesem Punkt unterschieden sich Zivildienst und Wehrdienst für die meisten nicht nennenswert voneinander. Im Jahr 2011 wurden schließlich die letzten Zivildienstleistenden in die Freiheit entlassen: Mit der Abschaffung der Wehrpflicht durch einen fränkischen Gutsherrn war auch der so genannte Ersatzdienst Geschichte.

Dass alle paar Jahre erneut die Wiedereinführung einer Dienstpflicht für junge Menschen diskutiert wird, mag ein typisches Sommerloch-sucht-Füllung-Phänomen und im Herbst schon wieder vergessen sein. Aber ein bisschen kühn erscheint der Einfall schon, die nachwachsende Generation, nachdem man sich entschieden hat, ihr den Planeten in einem möglichst heruntergewirtschafteten und unbewohnbaren Zustand zu übergeben, vorher noch ein bisschen für sich schuften zu lassen. Dass man dabei doch immerhin einiges fürs Leben lernen könne, wie die Dienstpflicht-Befürworter gerne heranführen, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Die wichtigste Lektion wäre allerdings, der Generation der Eltern und Großeltern keinen Meter mehr über den Weg zu trauen: Die zocken dich ab, wo sie nur können und erzählen dir dabei noch, wie gut dir das tun wird.

Dabei stimmt es ja: Viele meiner Freunde haben im Zivildienst wirklich Erfahrungen gesammelt, die ihr Leben bereichert haben. Sie haben kranken oder behinderten Menschen geholfen, sie haben alten Menschen Gesellschaft geleistet, sie haben Rettungswagen gefahren und dabei schlimme Dinge gesehen. Einer hat auch nach dem Zivildienst noch jahrelang in der Altenpflege weitergejobbt und sich so sein Studium finanziert. Es sind genau diese Erfahrungen, deren Schilderung von Texten wie diesem erwartet wird, Texte, die den Zivildienst als eine Art Schule der Nation verkitschen, als die man das Militär seit 1945 ja vorerst lieber nicht mehr bezeichnet.

Damit kann ich leider nicht dienen. Um ehrlich zu sein: Ich beneide meine Freunde um solche Erfahrungen, die auch meiner seltsamen Zwischen-Zeit einen wirklichen Sinn gegeben hätten, aber ich wusste nicht, dass ich mich mit meiner Dienststellenwahl weitgehend um diese Erfahrungen bringen würde. Einige meiner Zivi-Kollegen wurden am Nachmittag, wenn alle Mahlzeiten ausgeliefert waren, bei den Mobilen Sozialen Hilfsdiensten eingesetzt, aber ich saß dann im Büro und musste den Schwesterdienst Getränke auf Rädern organisieren, weil ich nunmal ein so verlässlicher Bursche war und gut mit Zahlen umgehen konnte. Mein neues Bestell- und Bestandsmanagement wurde allenthalben gelobt, im Lager fanden sich schon bald keine Bierkisten mit überschrittenem Haltbarkeitsdatum mehr. Ein administratives Wunder, wie hat der Teufelskerl das nur angestellt!

Vielleicht haben mich die Filme der »Fast and Furious«-Reihe auch deshalb nie sonderlich beeindruckt, weil ich schon in den neunziger Jahren meinen Zivildienst bei Essen auf Rädern geleistet hatte. Man kann gar nicht unterschätzen, was für einen testosterongeschwängerten Unsinn ein Haufen junger Männer anstellen kann, die gerade mal der Schule entronnen sind und denen man einen Fuhrpark voller Autos hinstellt, die nicht ihre eigenen sind, während sie es kaum abwarten können, dass nach der Dienstzeit endlich das eigentliche Leben losgeht.

Meine wertvollen Zivi-Erfahrungen jedenfalls — die Joghurtgewitter in den weißen VW Golfs und Passats; die Mutproben in der Kühlkammer; die Burnout-Wettbewerbe der Kollegen, die die Reifen vor der Fahrzeughalle quietschen und qualmen ließen, Vollbremsungsübungen veranstalten oder 180-Grad-Wenden mit angezogener Handbremse bei voller Fahrt übten; die Verwaltung des Getränkelagers, das einen rätselhaften, steten Bierverlust zu beklagen hatte, der in der Excel-Verwaltung auf noch rätselhaftere Weise stets weggerundet wurde — , all das hatte ich beinahe schon vergessen, als ich vor einiger Zeit bei einem gesellschaftlichen Ereignis mittlerer Tragweite von einem Offizier der Reserve, der sich in Friedenszeiten als hochrangiges Mitglied der deutschen Rechtsprechung durchschlagen musste, gefragt wurde, ob ick denn wohl jedient hätte. Er war misstrauisch geworden, weil ich ihm zuvor einige Fangfragen zu Kasernen in meiner Heimatstadt nicht zufriedenstellend hatte beantworten können. Kasernen waren für diesen Menschenschlag ja mythische Orte, während unsereins den Wehrdienst vor allem deswegen verweigert hatte, um diesen Höllenlöchern zu entgehen.

»Aber selbstverständlich!«, hatte ich schneidig geantwortet. »Bei Essen auf Rädern!« Der damalige OLG-Präsident machte auf dem Absatz kehrt und würdigte mich keines weiteren Blickes. Ich bezweifle allerdings, dass seine Gefechtserfahrung nennenswert an meine heranreicht.

Dies ist der wiederholte, lustlos aktualisierte Aufguss eines uralten Textes, aber mit der Dienstpflicht-Debatte ist es ja letztlich auch nicht anders.

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Jan Kutter
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Written by Jan Kutter

In Wahrheit dient die Dichtung der Wahrung der Dichtheit. // Verdrängung ist, was uns über Wasser hält. // Langstrecken von twitter.com/derkutter

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