Weltgeschichte im Reisebus

Eine Gruppe junger Westdeutscher bucht bei Jugendtourist eine Busreise in die DDR — und platzt im Herbst 1989 plötzlich mitten in die Wirren einer friedlichen Revolution. Sie haben Wandergitarren dabei.

Jan Kutter
18 min readNov 1, 2019

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Ich hatte die russische Zenit-E-Kamera meines Vaters dabei. Damit umgehen konnte ich allerdings noch nicht.

Unentwegt schimpfte der alte Mann auf uns ein. Eine Unverschämtheit sei das, in dieser Situation! Es war ein frischer Herbsttag, wir standen auf einem holperigen Parkplatz im Stadtzentrum von Magdeburg. Der Mann fuchtelte mit seiner Rechten in Richtung unseres Reisebusses und redete sich weiter in Rage: Unerhört, alle in einen Sack packen und draufhauen!

Es war der letzte Stop am letzten von fünf Tagen, an denen wir durch die DDR gereist waren. Als nächstes wollten wir das Land über den Grenzübergang Marienborn wieder verlassen. Obwohl wir uns nicht immer ganz unauffällig verhalten hatten, hofften wir auf eine reibungslose Ausreise. Die Wut des fremden Mannes auf dem Parkplatz verunsicherte mich. Was hatten wir getan?

Es war noch keinen Monat her, als es in Dresden zu schweren Ausschreitungen gekommen war. Um den Exodus ihrer Bürger ins sozialistische Ausland zu stoppen, hatte die DDR-Führung am 3. Oktober 1989 die Grenze zur Tschechoslowakei geschlossen. Mehrere Tausend Menschen demonstrierten tags darauf am Dresdner Hauptbahnhof. Ohne eine Bahnsteigkarte zu lösen, wie Lenin einst gehöhnt hatte, versuchten etliche von ihnen, auf die Sonderzüge aufzuspringen, mit denen die »Botschaftsflüchtlinge« aus Prag in den Westen gebracht wurden. Die Volkspolizei machte dem Treiben schließlich mit Schlagstöcken und Wasserwerfern ein Ende.

Kurz darauf, am 29. Oktober 1989, war unser westdeutscher Reisebus über den Grenzübergang Herleshausen gerollt, Richtung Dresden. Die Ausstattung war komfortabel, sogar ein Fernseher mit Videorekorder war an Bord. Eine VHS-Kassette des James-Bond-Klassikers »Liebesgrüße aus Moskau«, die noch im Gerät steckte, hatten wir vorsichtshalber blicksicher verstaut. Bloß nicht provozieren!

Auf den Seitenwänden des Busses prangte in großen, bunten Lettern der Name des Fuhrunternehmens: »fahr mit!«

Sprung über den Orchestergraben

Ich war gerade volljährig geworden. Ich war nun berechtigt, ein Kraftfahrzeug zu führen und mein Fehlen in der Schule mit eigener Unterschrift zu entschuldigen. Ansonsten trug ich mein Bündel spätpubertärer Unsicherheiten mit mir herum, für die es keinen besseren Nährboden gab als das Kleinstadtgymnasium im Landkreis Hannover, an dem ich meiner Hochschulreife entgegendämmerte. Nicht weit von hier hatte Ronald M. Schernikau sein Abitur gemacht, der noch als Schüler die vielbeachtete »kleinstadtnovelle« geschrieben hatte. Im Sommer 1989 nahm er als überzeugter Kommunist die Staatsbürgerschaft der DDR an und siedelte nach Ostberlin über, nachdem er zuvor bereits drei Jahre lang in Leipzig studiert hatte.

Mein Versuch, aus der kleinstädtischen Enge auszubrechen, war weniger originell. Er bestand aus einer intensiven Beschäftigung mit den Platten der Smiths und einem unmissverständlich vorgetragenen Bekenntnis zur politischen Linken. The Smiths hatten sich allerdings bereits vor zwei Jahren aufgelöst, und nun zeichnete sich mit dem beginnenden Brodeln in der DDR auch ein schicksalhaftes Jahr für die Linke ab.

Ich war kein Anhänger der DDR, aber ich betrachtete mich als Marxist. Mein theoretisches Fundament bestand im Wesentlichen aus einer eher selektiven Lektüre von Erich Fromms »Das Menschenbild bei Marx«. Das war immerhin genug, um mich gegen die vermeintlichen Verheißungen des Staatssozialismus sowjetischer Prägung zu imprägnieren, allerdings auch zu wenig, um zu verhindern, dass ich schon wenige Jahre später leichte Beute fashionabler französischer Virtualapostel werden sollte. Dass die ganze Welt bloß eine Simulation sei, das war einfach ein zu tröstlicher Gedanke für einen, dessen Weltekel bislang eher von Smiths-Sänger Morrissey als von Marx beschrieben worden war.

Das Jahr 1989 hingegen befand sich noch fest in der Hand der Realität. Immer hatte ich bis dahin etwas irritiert auf die Hippies und die 68er zurückgeschaut, auf ihre seltsam exaltiert zum Vortrag gebrachten revolutionären Aufwallungen, für die meine Generation weder die Kraft aufzubringen noch einen geeigneten Anlass zu finden schien. Hätte man etwa »Oh! Oh! Or-te-ga!« skandierend durch die Fußgängerzone ziehen sollen? Wenn schon der Nicaragua-Kaffee im Kulturzentrum immer so mies schmeckte?

Jetzt aber bahnte sich ein folgenschwerer Umbruch an, und einmal mehr war es nicht unser eigener. Das Schauspiel einer friedlichen Revolution in der DDR besichtigte man wie ein Theaterstück, nah am Geschehen und doch davon ausgeschlossen. Mit einem entscheidenden Unterschied: In jener letzten Oktoberwoche überquerten wir den Orchestergraben und stapften mitten durch ein Stück, dessen Ausgang völlig offen war.

Von Gänsefüßchen befreit

Bereits im Sommer des Vorjahres hatte eine lose Gruppe aus örtlichen Jusos und einem Fähnlein befreundeter Gymnasiasten bei Jugendtourist, der offiziellen Reiseorganisation der FDJ, und ihrem westdeutschen Ableger Hansatourist eine Studienfahrt in die DDR angemeldet. Was danach geschah, hatte niemand ahnen können. Erst der wachsende Unmut nach der offenkundig gefälschten Kommunalwahl, dann die dramatische Ausreise- und Flüchtlingswelle und die immer größer und lauter werdenden Demonstrationen, gegen die eine ratlose Staatsmacht mal mit aller Härte einschritt, um sie ein anderes mal wieder unbehelligt gewähren zu lassen: Die DDR, die der Springer-Verlag gerade erst von ihren Gänsefüßchen befreit hatte, schien ins Wanken zu geraten.

So unvorhersehbar dieser wechselhafte Frühling im Herbst gekommen war, so unklar war in diesen Tagen auch, wie es weitergehen würde. Nicht nur das harte Einschreiten der Staatsmacht in Dresden und anderswo hatte viele vorschnelle Hoffnungen gedämpft. Erich Honecker war als Generalsekretär des Zentralkomitees der SED durch Egon Krenz ersetzt worden, der noch vor kurzem großes Verständnis für das Blutbad am Pekinger Tiananmen-Platz geäußert hatte. Niemand wusste, ob der »Keine Gewalt!«-Appell der Demonstranten ein naiver Traum bleiben würde.

Sollte man die Reise ins Ungewisse nun antreten? Neugier und Abenteuerlust schoben letztlich alle Bedenken beiseite. 16 junge Westdeutsche machten sich auf den Weg, um Weltgeschichte in einem Reisebus zu erleben. Wir hatten Wandergitarren dabei.

Vor Grenzübertritt hatten wir in Duderstadt ein Seminar der Bundeszentrale für politische Bildung absolviert, in dem uns der Referent — der Politologe Bernward Baule, der später einmal Redenschreiber von Horst Seehofer werden sollte — noch einmal auf den Unrechtscharakter der DDR hinwies. Das war allerdings nicht notwendig gewesen: Jede Verharmlosung des offenkundigen Mangels an Freiheit und Demokratie als kleineres Übel auf dem Weg zum großen Ziel erledigte sich mit der einfachen Frage: Würde man dort leben wollen? Eben. Man hieß ja nicht Schernikau.

Linke Verklärung gab es gleichwohl. Daheimgebliebene Freunde hatten uns noch vom Segen des Zwangsumtauschs überzeugen wollen: Es gehöre sich nicht, ein sozialistisches Land zu betrügen. Einige von uns schmuggelten trotzdem heimlich DDR-Mark in Trinkflaschen und Sitzpolsterritzen über die Grenze. Ich selbst tauschte zwar brav 1:1, allerdings weniger aus »internationaler Solidarität«, sondern aus einem tief empfundenen Respekt vor der Humorlosigkeit der staatlichen Stellen.

Auch das Argument, die DDR sei bei aller Unvollkommenheit immer noch weniger unvollkommen als die kapitalistische BRD, verfing nicht. Was die Bundesrepublik betraf, die wir aus vollem Herzen für ihre Unzulänglichkeiten kritisierten, ohne auf ihre Annehmlichkeiten verzichten zu wollen, habe ich immer einen Satz beherzigt, den Elliot Gould in Alan Arkins schönem Film »Little Murders« gesagt hat: »Es ist sehr gefährlich, ein System zu bekämpfen, wenn man nicht ganz genau weiß, dass man es hinterher nicht vermissen wird.«

Diese Sorge hatten die Menschen in der DDR offenkundig hinter sich gelassen.

Romy Schneider geht an Bord

Wer in Königstein in der Sächsischen Schweiz die Jugendherberge sucht, der muss erst eine kleine Fähre besteigen, die ihn an das andere Elbufer bringt. Dort steigt man einige Treppen hinauf zu einem alten Fachwerkhaus, das einst als Naturfreundehaus gegründet wurde und später von den Nazis zum »Schutzhaftlager« umfunktioniert wurde. Zu DDR-Zeiten eröffnete hier die Jugendherberge »Julius Fučík«, benannt nach einem tschechischen Autor und Kommunisten, der von Freislers Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden war. Diese Einrichtung hatte Jugendtourist als Schlafquartier für uns gebucht.

Die Abgeschiedenheit dieses Ortes konnte man idyllisch finden oder einfach nur hinderlich. Die Elbfähre stellte um 23 Uhr ihren Betrieb ein. Gegen Devisen konnte man eine kleine Flexibilisierung aushandeln, doch der Aktionsradius blieb eingeschränkt. Also packten wir abends im Speisesaal die Wandergitarren aus und belustigten die anderen Gäste: eine Schulklasse und ein Ehepaar im Wanderurlaub. Wir spielten Selbstgeschriebenes und Neil Youngs »Rockin’ in the Free World«.

Während der Anreise waren alle üblichen Klischees bereits bedient worden: mürrische Grenzsoldaten, rumpelige Straßen, riesige Plattenbausiedlungen an den Stadträndern. Mich faszinierten die vielen Fenster, aus denen nachts ein seltsames violettes Licht schimmerte. Kein politisches Statement, wie mir unsere Reiseleiterin erklärte, die kurz nach unserem Grenzübertritt den »fahr mit!«-Bus bestiegen hatte, sondern die Lumoflor-Pflanzenleuchten des volkseigenen NARVA-Werks. Die Begleiterin hieß (oder nannte sich) Romy Schneider und eskortierte uns fortan im Auftrag von Jugendtourist bei der Absolvierung unseres offiziellen Programms.

Besuche in Dresden, Leipzig, Weimar, Cottbus, Magdeburg hatte Jugendtourist auf das Programm gesetzt, die Hauptstadt der DDR blieb ausgespart. Drei Botschaften schien uns das staatsnahe Reisebüro vermitteln zu wollen: In Buchenwald wurde bei einer Führung durch das ehemalige Konzentrationslager nicht auf den Hinweis verzichtet, dass die DDR die wahre Hüterin des antifaschistischen Erbes sei. In Weimar betonte ein sogenannter Stadtbilderklärer, dass die DDR die wahre Hüterin des humanistischen Erbes sei, bei der Weimarer Klassik beginnend und beim Bauhaus nicht endend. Und bei Besuchen von Restaurants wie dem »HO Klub der Werktätigen« in Dresden wurden ausnahmslos üppig beladene Aufschnitt- und Fleischplatten aufgefahren, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass in der DDR kein Mangel an Grundnahrungsmitteln herrschen konnte. Meine kurz zuvor begonnene Karriere als Teilzeitvegetarier (The Smiths: »Meat Is Murder«) fand hier ihr jähes Ende.

Damit das Besuchsprogramm besser auf uns abgestimmt werden konnte, hatten wir im Vorfeld der Reise auch eigene Interessengebiete benennen können. Dem Zeitgeist folgend hatten wir die Umweltpolitik genannt. Was konnte für Jugendtourist also näher liegen, als für uns eine Diskussion mit jungen Führungskräften der Wasseraufbereitungsanlage Cottbus II anzusetzen, die uns eine Filteranlage präsentierten und versicherten: Die Wasserqualität habe in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen! Man konnte darüber streiten, ob dieser Klärwerksbesuch nun ein gut gemeinter Versuch war, unseren Interessen gerecht zu werden, oder ob er ein besonders maliziöses Humorverständnis der Reiseplaner verriet, in deren Gesellschaftsverständnis die ökologische Frage wohl eher einen Nebenwiderspruch darstellte.

»Die Demo wird zur politischen Kultur gehören!«

Für uns war sie das mittlerweile allerdings auch. Uns interessierte brennend der Hauptwiderspruch, der das Land nun bereits seit Wochen in einem kippeligen Schwebezustand hielt. Die Friedensgebete, mit denen die Bürgerrechtsbewegung einen ersten Schritt in die Öffentlichkeit gewagt hatte, waren zu großen Demonstrationszügen ausgewachsen. Am Tag unserer Einreise versammelten sich unter dem Titel »Offene Türen, offene Worte« nach offiziellen Angaben mehr als 20.000 Bürger zu einer »Dialog«-Veranstaltung vor dem Roten Rathaus und in der Kongresshalle in Berlin – offenkundig ein Versuch der DDR-Führung, die Dynamik auf den Straßen wieder einzufangen und in geordnete Bahnen zu lenken.

Während unser Bus zum ersten Mal nach Königstein ruckelte, prophezeite Günter Schabowski vor der Menschenmenge: »Die Demo wird zur politischen Kultur in Berlin gehören!« Das alles konnten wir im Autoradio mitanhören, während unsere Reiseleiterin augenscheinlich nicht so recht wusste, was sie davon halten sollte. Sie mahnte uns zur Vorsicht und warnte ausdrücklich vor Kontakten zur Opposition – mit den »Schlägertrupps des Neuen Forums« sei nicht zu spaßen.

Am nächsten Tag lasen wir umfangreiche Berichte über den Massen-Dialog im »Neuen Deutschland«. Wie übrigens auch die Nachricht, dass die Disco in unserer niedersächsischen Heimatstadt gerade abgebrannt war.

»Burn down the Disco«, so hatten schon die Smiths einst gefleht. Etwas war im Schwange.

»Mit dem Gummiknüppel geweckt«

Auch in Dresden hatte die SED den Dialog mit dem aufmüpfigen Volk aufgenommen. Als wir eine Andacht in der gut gefüllten Dresdner Kreuzkirche besuchen, sind wir darauf vorbereitet, auf versteckte politische Andeutungen in der Predigt zu achten. Doch zwischen den Zeilen ist wenig Platz für Unausgesprochenes. Der Pastor berichtet ausführlich von einem Treffen der »Gruppe der Zwanzig« mit der Führung des Rathauses. Die Einsetzung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von Partei und Opposition zur Aufklärung der Polizeiübergriffe am Hauptbahnhof sei verabredet worden, ebenso weitere Arbeitskreise über Presse- und Reisefreiheit, wirtschaftliche Reformen, mehr Demokratie. Als zwei Kirchenvertreter ihre Konzeption eines christlichen Sozialismus vorstellen, marschiert ein Fernsehteam der ARD herein, baut seine Kamera auf und rollt Kabel aus. Doch für den Korrespondenten ist diese Andacht nichts besonderes mehr, erzählt er uns: »Man muss schon auf gut Glück herumfahren, um noch etwas neues zu finden.«

Die »Gruppe der Zwanzig«, ein Kreis von Bürgern und Kirchenleuten, die eher zufällig bei einer aufgelösten Demonstration übrig geblieben waren, ist schnell zum Sprachrohr der Reformbewegung und zum Ansprechpartner des Oberbürgermeisters Wolfgang Berghofer geworden. Doch etwas sehr wichtiges, das sie ihren offiziellen Gesprächspartnern abspricht, fehlt auch ihr: eine ordentliche demokratische Legitimation.

Zwei Tage nach der Andacht drängt sich ein knappes Dutzend Menschen in den Eingang der Kreuzkirche, um sich vor dem Nieselregen zu schützen. Sie wollen ein Mehrparteiensystem wie in Ungarn und mehr Wettbewerb in der Wirtschaft. Und sie verteilen kleine, hektographierte Zettel an Passanten. Unter der Überschrift »Vollmacht« ist in Schreibmaschinenschrift zu lesen:

»Ich bevollmächtige — bis auf Widerruf — die Mitglieder der ›Gruppe der Zwanzig‹, meine Interessen offiziell und öffentlich zu vertreten, sowie in meinem Namen Gespräche und Verhandlungen mit staatlichen Stellen, Vereinigungen, Organisationen und Parteien der DDR zu führen, um damit eine umfassende und gewaltfreie Veränderung der Gesellschaft zum Guten hin in Dresden und Umgebung zu bewirken.«

Darunter: Raum für Datum und Unterschrift.

Man könnte sich darüber lustig machen, dass Deutsche selbst in einer revolutionären Phase zuerst ein Formular einschließlich Widerrufsklausel entwerfen. Doch die Ernsthaftigkeit dieses — wenn auch symbolischen — Versuchs, den Reformprozess bei aller Improvisation und Unübersichtlichkeit so korrekt und anständig wie möglich »zum Guten hin« zu organisieren, beeindruckt uns. Überhaupt sind die meisten Protestformen von entwaffnender Schlichtheit, etwa wenn die örtliche Außenstelle des Ministeriums für Staatssicherheit von einem flackernden Band aus Kerzen umstellt wird.

Eng beschriebene Schreibmaschinenseiten in der Leipziger Nikolaikirche

Soviel idealistischer Sanftmut ist ja eher selten in der deutschen Geschichte. Er findet seinen Ausdruck auch in den mannigfachen, engbeschriebenen Positionspapieren der verschiedenen Bürgergruppen, wie sie an Stelltafeln in der Nikolaikirche in Leipzig aushängen. Unter dem Schriftzug »Information + Kommunikation« werden hier Visionen einer besseren Gesellschaft, eines demokratischeren Sozialismus, einer freieren DDR formuliert, aufmerksam gelesen von Grüppchen dicht gedrängt stehender Bürger. Und auch wenn sich nicht immer ausmachen lässt, ob das Bekenntnis zum Sozialismus nun ein taktisches ist oder eines aus Überzeugung, so erstrahlen in vielen dieser Texte die Möglichkeiten politischer Theorie in einer tapferen Schönheit.

Mit einigen der Männer, die in Dresden die Vollmacht-Handzettel verteilen, kommen wir ins Gespräch. Einer von ihnen, vielleicht um die vierzig Jahre alt, erzählt uns, er habe zwei Jahre in Bautzen abgesessen, weil er seine Meinung gesagt habe. »Da gibt es Zellen, die werden einen Meter tief unter Wasser gesetzt. Jeden Morgen wird man mit dem Gummiknüppel geweckt.« Tiefe Falten ziehen sich durch sein Gesicht. Mehr noch als auf die Stasi schimpft er jedoch auf die Übersiedler, die in den Westen gegangen sind: »Jedem von denen wünsche ich, dass sie in der BRD auf der Straße stehen!«

Bis auf Widerruf eine Veränderung zum Guten hin

Ein anderer, Anfang dreißig, prahlt damit, wie er kürzlich »einen Polacken K.O. geschlagen« habe, weil der ihn einen Faschisten genannt hätte. »Erst kaufen sie die ganze DDR leer, und dann werden sie auch noch frech!« Auch für die vietnamesischen Gastarbeiter in der DDR hat er nur Verachtung übrig: die »Fidschis« machten lieber Überstunden statt zu demonstrieren.

So wie hier in Sachsen hatten wir wohlbehüteten jungen Linken uns eine umsturzbereite Arbeiterschaft nicht vorgestellt.

Schnaps in kleinen Scheinen

»Glaubt ihr etwa, wir haben hier keine Kekse?« Die junge Studentin schüttelt den Kopf. Gerade haben wir unser Gastgeschenk überreicht: eine Dose dänischer Butterkekse aus dem heimischen Supermarkt. Die Studentin denkt offensichtlich gerade an Glasperlen für die Eingeborenen. Aber zumindest trumpfen wir nicht auf wie die reichen Onkel aus dem Westen.

Wahrscheinlich sind die Studenten der PH Dresden, die mit uns über politische Partizipationsmöglichkeiten junger Menschen debattieren sollen, handverlesen. Doch wer vor kurzem noch als linientreu galt, muss es heute nicht mehr sein. Die Diskussionen, für die wir uns in kleinen Gruppen an mehrere Tische verteilen, sind offen und kritisch. Es ergibt sich kein einheitliches Bild, wohin man will und was man sich vom Westen erwartet. Aber so wie es ist, so dürfe es nicht bleiben. Von Einschüchterung und Angst vor Spitzeln ist an diesem Abend nichts zu spüren, von wolkigem Idealismus aber auch nicht: Höchste Zeit, dass sich das Warenangebot verbessere!

Was denn unser erster Eindruck von der DDR gewesen sei? Nicht sehr originell, aber aufrichtig zeigen wir uns betrübt über die allgegenwärtigen düsteren Fassaden: Haus für Haus, Straße für Straße in diesem immergleichen tristen Grau. »Ja, was!«, entfährt es einer Studentin, »sollen wir unsere Häuser etwa bunt anmalen?«

Wir sind verblüfft. Konnte es tatsächlich sein, dass die Veränderung einer Fassade so viel absurder erschien als die Veränderung eines ganzen autoritären Gesellschaftssystems? Andererseits: Was wäre wohl wichtiger? Die berühmte westdeutsche Oberflächlichkeit hat bekanntlich viele Gesichter — unsere ostdeutschen Gesprächspartner müssen sich an diesem Abend mit unseren begnügen. Erst die Kekse und nun das.

Wenn ich Jahre später durch die Dresdner Innenstadt laufe, die im Zuge des »Aufbau Ost« (und der Restitution zahlreicher Immobilien) einen prächtigen Neuanstrich erhalten hat, muss ich oft an diese Diskussion zurückdenken. Doch jetzt, im Herbst des Jahres 1989, bestimmen andere Themen die Tagesordnung. Als wir das Hochschulgebäude am Abend wieder verlassen, strömen die Menschen gerade in Scharen zur Montagsdemonstration, um an der demokratischen Fassade zu kratzen, die die DDR sich gegeben hat. Wir sind neugierig, aber wir müssen zu unserem Bus, zurück nach Königstein. Die letzte Fähre wartet nicht.

Kontakt mit der neuen politischen Demo-Kultur gibt es dafür tags darauf. Zum Abendessen im Weimarer »Theaterkasino« werden wir am vernehmlich murrenden »sozialistischen Wartekollektiv« vorbei zu unseren reservierten Tischen geführt. Drinnen wird einmal mehr Fleisch in unterschiedlichsten Darreichungsformen serviert. Nach dem Abräumen offeriert ein junger Kellner uns immer wieder aufdringlich Schnaps, und als ein Mitglied unserer Reisegruppe schließlich seiner Aufforderung folgt, sich die Spirituosen-Auswahl doch einmal näher anzuschauen, stellt sich »Schnaps« als Code-Wort für den Schwarztausch von Devisen vor der Herrentoilette heraus.

»Bürger Weimars, schließt Euch an!«

Als wir das Restaurant mit vollen Bäuchen (und einigen DDR-Mark mehr in der Tasche) wieder verlassen, geraten wir direkt in einen Demonstrationszug. Da wir auf dem Weg zu unserem Bus die gleiche Richtung haben, werden wir unbeabsichtigt zu Mitdemonstranten, der Menschenstrom nimmt uns einfach in sich auf. »Bürger Weimars, schließt Euch an!«, skandiert die Menge, »Stasi in die Produktion« und »Egon, reiß die Mauer ein, denn wir brauchen jeden Stein.« Die DDR-Medien weisen in diesen Tagen wiederholt darauf hin, dass die Proteste auf den Straßen von eingereisten Provokateuren aus der BRD angeleitet würden.

Die FDJ-Bezirksleitung Cottbus ist auch für Reformen. So sehr, dass sie sich sogar an die Spitze der Reformbewegung setzen will. »Wir erheben keinen Anspruch auf die einzige, ewige Wahrheit. Nie, nie mehr. Wir wollen die Wende radikal mittragen und voranbringen. Wir wollen den Sozialismus attraktiver machen«, erklärt uns ein Funktionär am großen Besprechungstisch. Auch mit der Einheitsorganisation der Jugend hat man uns einen Termin angesetzt und die sieht sich schon wieder als Avantgarde, deren »Initiative und Verantwortung bei weitreichenden Reformen gebraucht« werde. Die DDR offener und pluralistischer zu machen, ja, das gehe nunmal »nicht ohne die Führung einer marxistisch-leninistischen Partei!«

»Die gesellschaftlichen Widersprüche treiben uns voran!«

Die Proteste auf den Straßen nimmt man hier nach guter Sitte dialektisch: »Die gesellschaftlichen Widersprüche treiben uns voran.« Die jungen Funktionäre wirken übernächtigt und verunsichert, es scheint, als trieben die gesellschaftlichen Widersprüche sie eher vor sich her. An der Wand hinter ihnen ein helles Rechteck. Hing da vor kurzem noch das obligatorische Honecker-Porträt? Die neuen Krenz-Bilder scheinen noch nicht eingetroffen zu sein.

Auf dem Besprechungstisch stehen Kekse.

Elefanten im HO-Laden

In der Kreuzkirche hatte uns jemand eine Adresse gesteckt. Ein Jugendpfarramt in der Barlachstraße sollte eine Art inoffizielles Zentrum der Dresdner Opposition sein. Unter dem Vorwand, Bücher kaufen zu wollen (ich habe auf dieser Reise unter anderem antifaschistische Thriller und die »Ausgewählten Werke« von Marx und Engels in sechs Bänden aus dem einschlägigen Dietz-Verlag erstanden), entziehen wir uns zu viert der Aufsicht Romy Schneiders. Ortsfremd wie wir sind, fragen wir einen Volkspolizisten höflich nach dem Weg.

Als eine kleine Frau mittleren Alters uns öffnet, beschleicht uns das absonderliche Gefühl, bereits erwartet worden zu sein. Wir werden hereingebeten, und nachdem wir die Umstände unseres erstaunlichen Erscheinens erklärt haben, beginnt eine angeregte Diskussion über die Zukunft des Sozialismus und der DDR. Darüber, ob eine kapitalistische DDR neben der Bundesrepublik überhaupt eine Existenzberechtigung habe und warum wir im Westen eigentlich auf einen Durchbruch der Reformbewegung hofften. Wir sind beeindruckt von der großen Ernsthaftigkeit, mit der ein junger Kirchenmitarbeiter erklärt, das höchste Gebot sei nun Vorsicht, denn: »Diese Chance wird unsere einzige sein.«

Dann schellt es an der Tür. Unsere Gastgeber zucken zusammen, ihre Blicke verraten Anspannung und Wachsamkeit, vielleicht auch Angst. Erst jetzt verstehen wir: Diese Menschen hatten selbstverständlich nicht mit uns gerechnet. Sie rechneten noch immer mit allem.

Der Besuch an der Tür stellt sich als harmlos heraus. Doch als wir kurz darauf aufbrechen, bemerken wir einen geparkten Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Jemand sitzt darin. Was immer das bedeuten mochte oder auch nicht, eines ist gewiss: Wir machen es den Leuten nicht gerade einfach, vorsichtig zu sein. Wir hatten uns anstecken lassen von der Aufbruchstimmung, die uns überall entgegengeschlagen war, und stapften wie gutmütige Elefanten durch den HO-Laden. Jetzt begreifen wir, warum der Slogan »Keine Gewalt!« auf den Demonstrationen noch immer solch eine Bedeutung hat: Weil das Spiel noch nicht aus ist.

Beschämt von unserer Gedankenlosigkeit machen wir uns auf den Weg zurück in die Stadtmitte, zu unserem »fahr mit!«-Bus.

Der Ruf nach Helmut

Nur wenige Tage später, jetzt ist das Spiel aus. Kurz nach unserer reibungslosen Ausreise bricht die alte Ordnung zusammen, die DDR-Führung ergibt sich ihrem Volk. Meine überwiegend unterbelichteten Fotos von unserer Exkursion in ein fest verschlossenes Land sind noch nicht entwickelt, als Günter Schabowski am 9. November überraschend, augenscheinlich auch für ihn selbst, die innerdeutsche Grenze für geöffnet erklärt. Egon Krenz wird als SED-Chef durch Hans Modrow ausgetauscht und eine freie Neuwahl der Volkskammer angesetzt. Zuvor war bereits Karl-Eduard von Schnitzlers realsozialistischer Fernsehgottesdienst »Der schwarze Kanal« abgesetzt und auf dessen Sendeplatz eine ungewohnt kritische Reportage mit dem Titel »Ist Leipzig noch zu retten?« ausgestrahlt worden. Und was war das Thema der aufsehenerregenden Sendung? Der katastrophale Zustand der Bausubstanz!

Dass das SED-Regime schon in den letzten Zügen gelegen hatte, als wir neugierig und sorglos durch das aufgewühlte Land liefen, war uns nicht bewusst gewesen. Und auch den Menschen nicht, mit denen wir diskutiert hatten. Nach der Rückkehr in unser westdeutsches Heimatstädtchen erklären wir der Lokalzeitung mit der neugewonnenen Autorität von Ostexperten, eine Wiedervereinigung stünde nun aber ganz gewiss nicht bevor. Die Menschen in der DDR wollten sich vielmehr ihr eigenes Land neu aufbauen. So hatten sie es uns gesagt, und so tragen wir es weiter.

Es ist Februar 1990, als ich zum zweiten Mal in die DDR einreise. Unsere Busreise liegt gerade einmal drei Monate zurück, als der Wahlkampf für die neue Volkskammer — nun unter völlig ungewohnten Vorzeichen — in seine entscheidende Phase geht. Das will ich mir nicht entgehen lassen. Noch weiß niemand, dass es die letzte Volkskammer sein wird, die gewählt werden wird, aber viele hoffen es bereits.

Aus Bürgerrechtsgruppen sind Parteien, Bündnisse und Allianzen geworden, die alten Blockparteien der Nationalen Front versuchen hastig, sich neu zu erfinden. Noch einmal werden Flugblätter verteilt, noch einmal Gesellschaftsbilder für eine bessere, gerechtere DDR entworfen. Doch auf den Marktplätzen dominiert längst der Ruf nach einem gewissen »Helmut«. Zwei junge Brüder, die sich im Wahlkampf für das von Lothar de Maizières Ost-CDU geführte Wahlbündnis »Allianz für Deutschland« engagieren, versuchen mir bei Bier und Korn zu erklären, warum Dr. Kohl ihre einzige Hoffnung sei. Der ältere trägt ein D-Mark-Stück als Anstecknadel am Revers. Für sie komme ich offenbar aus dem gelobten Land, einem Land, in dem man sogar die Fassaden anstreicht. Sie können nicht verstehen, dass ich sie nicht verstehen kann.

In Salzwedel lerne ich eine junge Frau kennen, die meine Leidenschaft für Wahlprogramme verschiedenster Kleinparteien freundlich-amüsiert zur Kenntnis nimmt und mich zu einem Abendessen in ihr Elternhaus einlädt. Ihre Eltern sind Mitglieder des Neuen Forums, engagieren sich für das Bündnis 90. Ich erzähle ihnen von meinem deutschen Herbst, und sie erzählen mir von ihrem. Ende Oktober waren sie auf Wanderreise in Sachsen — oder so hätten sie es zumindest genannt, falls die Staatssicherheit sie bei einer der großen Demos in Leipzig festgesetzt hätte, denen sie sich anschließen wollten. Übernachtet hatten sie unter anderem in einer Jugendherberge in Königstein und sich gewundert über ein paar westdeutsche Jugendliche mit Gitarren, die seltsame Musik machten. Wir gleichen die Daten ab und können es kaum fassen.

Ich erzähle vom »fahr mit!«-Schriftzug auf unserem Bus und dass mir dieser während der gesamten Reise überhaupt nicht aufgefallen war, bis uns in Magdeburg der aufgebrachte Rentner auf dem Parkplatz deswegen zu beschimpfen begann. Hatten wir nun seinen Unmut erregt, weil er ein Anhänger der alten Ordnung war und Republikflucht für ihn noch immer ein Verbrechen? Oder war er einer, der auf Reformen hoffte und nicht verstand, wie sich die Übersiedler aus ihrer Verantwortung für eine bessere DDR stehlen konnten? Wie hätte man ihm erklären können, dass man im Westen gelernt hat, die allgegenwärtigen Werbebotschaften einfach auszublenden und sich nichts dabei zu denken, während man im Osten auf jedes Zeichen zwischen den Zeilen achtete? Dass die Wahl des Busses nur ein Zufall war und wir tatsächlich keinen Menschen zum Mitfahren auffordern wollten?

Dann fällt mir ein Slogan der Demonstranten ein, den wir in unserer reformbewegten Woche an fast an jedem Tag gehört hatten. Eine unterschwellige Drohung an die Machthaber, vor allem aber ein trotziges Bekenntnis zu einem Land, das gegen jede Wahrscheinlichkeit von seinen Bürgern erst erkämpft werden musste und wenig später trotzdem seltsam kampflos wieder aufgegeben wurde.

Er lautete: »Wir bleiben hier!«

[Eine frühere Fassung dieses Textes erschien am 30. Oktober 2009 anlässlich des zwanzigsten Jahrestags des Mauerfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Der Text wurde im Oktober 2019 leicht überarbeitet und ergänzt.]

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Written by Jan Kutter

In Wahrheit dient die Dichtung der Wahrung der Dichtheit. // Verdrängung ist, was uns über Wasser hält. // Langstrecken von twitter.com/derkutter

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